Wo?
In Westerland!
Bestimmt seid ihr schon häufig an dieser Ruhestätte vorbeigegangen. Aber... Habt ihr den Friedhof auch schon mal betreten?Ich schon häufig und wenn dort verweile, habe ich immer viele Fragen und Gedanken im Kopf.
Mögt einen Ausflug dorthin machen?
Dann begleitet mich.
Natürlich habe ich meine Worte wieder in eine Geschichte verpackt.
Unter der Dusche war ich bereits gewesen und auch meinen zweiten Becher
Kaffee hatte ich mit Vorfreude auf den heutigen Tag inzwischen geleert. Endlich
konnte es losgehen. Ich freute mich schon sehr darauf, Smilla gleich zu
treffen. Noch gestern Abend hatte ich mich etwas auf das heutige Vorhaben
vorbereitet und mich über den Friedhof der Heimatlosen schlaugemacht. 54 vom
Meer wieder freigegebene Menschen hatten dort ihre letzte Ruhestätte gefunden.
Innerhalb von 50 Jahren wurden sie hier begraben. Menschen, die hier auf Sylt
an den Strand gespült worden waren. Ich fand es schön, dass diese Unbekannten
einen letzten Ruheplatz bekommen hatten. Dann musste der kleine Friedhof
geschlossen werden. Geschlossen war vielleicht das falsche Wort. Immerhin
konnte man diesen Ort auch heute noch besuchen. Es war lediglich so, dass es
hier keinen Platz mehr für weitere angespülte Leichen gab und der Friedhof
nicht vergrößert werden konnte.
Smilla stand bereits am Fenster ihrer kleinen Wohnung und wartete auf
mich. Als sie mich kommen sah, winkte sie mir zu, gab mir anschließend ein
Zeichen und machte sich auf den Weg hinunter auf die Straße. Zur Begrüßung nahm
ich sie in den Arm und gab ihr einen Kuss auf die Nase.
„Und, ist sie sehr kalt?“ Lächelnd sah Smilla mich an.
„Na klar. Ich hatte allerdings auch nichts anderes von deiner Nase
erwartet.“ Hand in Hand gingen wir die Friedrichstraße hinauf, bevor wir links
in die Elisabethstraße abbogen. Weit war es nicht, und doch nutzte ich diesen
kurzen Weg dafür, Smilla alle Infos über diesen Friedhof zu geben, die ich
gestern recherchiert hatte.
Als wir angekommen waren und vor der großen Pforte standen, verharrten
wir einen Augenblick. Ich hatte das Gefühl, dass meine kleine Tussi mir
irgendetwas sagen wollte. Da aber auch einige Sekunden später nichts von ihr zu
hören war, war ich es, der das Wort ergriff. Vielleicht war ihr heute nicht
nach einem Friedhofsbesuch zumute. Wenn es so sein sollte, mussten wir ihn
verschieben. Immerhin konnten wir es jederzeit nachholen oder einfach ausfallen
lassen.
„Möchtest du lieber nicht auf den Friedhof?“
„Doch, auf jeden Fall. Irgendwie passe ich perfekt hierher.“
„Perfekt hierher? Wie meinst du das?“ Obwohl ich mir hätte denken
können, was Smilla meinte, fragte ich nach.
„Mein Leben fühlte sich eine ganze Weile schon heimatlos an.“ Smilla stoppte
ihren Satz und sah gegen das schwere Tor, vor dem wir noch immer standen. Dann
griff sie erneut nach meiner Hand und sprach anschließend weiter.
„Mein Leben vielleicht nicht. Ich habe mich heimatlos gefühlt. Es wurde
erst etwas besser, als ich nach Sylt gezogen bin.“
„Etwas besser nur? Ich dachte, dass es dir jetzt gut gehen würde.“
„Zunächst nur etwas besser. Aber du hast recht. Jetzt geht es mir gut.
Weißt du, warum es so ist?“ Erwartungsvoll sah Smilla mich an.
„Erwartest du wirklich eine Antwort von mir?“
„Ich erwarte gar nichts. Ich glaube aber, dass du den Grund kennst.“
„Weil wir zusammen Zeit verbringen?“, fragte ich nach und spürte, wie
mein Herz anfing, schneller zu schlagen.
„Nicht nur das. Auch, weil ich an dich denke, wenn wir keine Zeit
zusammen verbringen. Wenn ich alleine in meiner Wohnung bin und für mich sein
möchte. Dann bin ich es nicht. Zumindest nicht immer, da du die meiste Zeit bei
mir bist. Weil du mich in meinen Gedanken begleitest.“ Smilla sah mich an, und
ich wunderte mich darüber, dass sie in diesem Moment meine Hand losließ. Zum
Glück tat sie es nur, um mir direkt danach um den Hals zu fallen. Um sich ganz
dicht an mich zu schmiegen und um mich zu drücken. Auch ich nahm sie in den Arm,
und es fühlte sich toll an, als ich mit meiner Hand ihren Nacken und die Haare
berühren durfte.
Ein Glücksgefühl stieg in mir auf. Ein Glücksgefühl, welches intensiver
nicht sein konnte. Gänsehaut hatte meinen Körper überzogen. Gänsehaut, die
keineswegs der Temperatur, sondern ausschließlich diesem Moment geschuldet war.
Es war ein besonderer Moment für mich. Ein Moment, den ich für immer in meinem
Herzen tragen würde.
„Nun aber los.“ Smilla löste sich aus meinen Armen und öffnete das
Friedhofstor und wenige Schritte weiter standen wir inmitten vieler schlichter
Holzkreuze. Beschriftet waren diese lediglich mit dem Datum, an dem die
unbekannten Leichen angespült worden waren, und dem Ort, an dem sie gefunden
wurden. Langsam schritten wir den kleinen Friedhof ab und sahen jedes der
Gräber an. Alle waren gleich. Sie unterschieden sich nur an zwei Merkmalen. Am
Tag, an dem die Leiche angespült wurde, und am Ort, an dem der Körper
gestrandet war. Vielleicht eine halbe Stunde verbrachten wir an diesem Ort der
Stille.
Obwohl ich schon viele Friedhöfe besucht hatte, war das Gefühl auf
diesem ein ganz anderes. Ich wusste nicht, ob es daran lag, dass dieser
Friedhof der Heimatlosen für mich eine Verbindung zu Smilla darstellte oder ob
ich für mich keinen Bezug zu den Gräbern herstellen konnte. Was auch immer es
war, ich fühlte mich erst besser, nachdem wir den Friedhof verlassen hatten und
uns bereits wieder in der Friedrichstraße befanden.
Wie wir es gestern besprochen hatten, machten wir uns direkt auf den Weg
zu einem Bäcker, um uns mit Brötchen und Kaffee einzudecken. Da wir unsere
Badesachen und eine große Wolldecke schon dabeihatten, gingen wir zum Strand
und suchten uns einen schönen Platz an den Tetrapoden. Von hier aus hatten wir
einen tollen Blick, waren etwas windgeschützt und konnten uns anlehnen.
Während ich mit meinem Rücken an die Tetrapoden gelehnt saß, lag Smilla
neben mir und hatte ihren Kopf auf meinen Schoß gelegt.
„Denkst du über irgendetwas nach?“, fragte Smilla mit geschlossenen
Augen. Sie hatte recht, ich dachte tatsächlich über etwas nach, und da sie das
Thema nun angesprochen hatte, stellte ich meine Frage auch.
„Wie bist du gestern darauf gekommen, mich Lieblingszicke zu nennen?“
„Stört es dich? Dann lass ich es.“
„Nein, es stört mich überhaupt nicht. Mich interessiert nur, wie du
darauf gekommen bist. Sagst du es mir?“ Obwohl ich in diesem Moment damit
gerechnet hatte, dass mich zunächst Schweigen erwarten würde, antwortete Smilla
sofort.
„Es war irgendwie eine Eingebung. Ich weiß nicht genau warum. Eigentlich
glaube ich sogar, dass der Name gar nicht zu dir passt, und doch hatte ich das
Bedürfnis, dich so zu nennen.“
„Könnte es daran liegen, weil der Button bei dir im Flur hängt?“
„Ich bin mir nicht sicher. Zunächst hatte ich geglaubt, dass es an dem
Button liegt, aber jetzt …“ Smilla zuckte ein wenig ratlos mit den Schultern.
„Jetzt glaubst du es nicht mehr?“
„Als wir in der Vogelkoje diesen Button entdeckt haben, hatte ich zum
ersten Mal die Idee, das Wort Lieblingszicke mit dir in Verbindung zu bringen.
Merkwürdig, oder?“
„Und warum hast du mich erst gestern so genannt?“ Jetzt war ich wirklich
neugierig. Konnte es etwa sein, dass eine weitere Erinnerung zurückgekehrt war?
„Vielleicht weil du mir gestern eine Vorlage dazu gegeben hast?“
„Oder?“ Ihre Antwort stellt mich nicht so recht zufrieden.
„Was oder?“
„Du hast vielleicht gesagt. Ich dachte, dass es noch eine andere
Möglichkeit gibt.“
„Oder weil ich vorher zu feige war.“ Smillas Stimme wurde bei ihren
Worten immer leiser. Als wäre ihr diese Feigheit unangenehm.
„Vielleicht bist du gar nicht so heimatlos, wie du immer gedacht hast?“
Ich biss mir auf die Zunge. Diesen Satz, besser gesagt diese Frage hätte ich
mir lieber verkneifen sollen. Wie um alles in der Welt kam ich in diesem Moment
auf die Idee, in ihrer Wunde zu bohren? Es war wirklich selten dämlich von mir
und ich ärgerte mich bereits jetzt extrem darüber.
Wer mag schon Heimatlos sein?
Wobei, für die dort liegenden Körper ist es irgendwie doch schön. Oder?
Liebe Grüße
Ben
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