Montag, 16. März 2020

Die Namenslosen

Wo?

In Westerland!

Bestimmt seid ihr schon häufig an dieser Ruhestätte vorbeigegangen. Aber... Habt ihr den Friedhof auch schon mal betreten?
Ich schon häufig und wenn dort verweile, habe ich immer viele Fragen und Gedanken im Kopf.

Mögt einen Ausflug dorthin machen?
Dann begleitet mich.
Natürlich habe ich meine Worte wieder in eine Geschichte verpackt.


Unter der Dusche war ich bereits gewesen und auch meinen zweiten Becher Kaffee hatte ich mit Vorfreude auf den heutigen Tag inzwischen geleert. Endlich konnte es losgehen. Ich freute mich schon sehr darauf, Smilla gleich zu treffen. Noch gestern Abend hatte ich mich etwas auf das heutige Vorhaben vorbereitet und mich über den Friedhof der Heimatlosen schlaugemacht. 54 vom Meer wieder freigegebene Menschen hatten dort ihre letzte Ruhestätte gefunden. Innerhalb von 50 Jahren wurden sie hier begraben. Menschen, die hier auf Sylt an den Strand gespült worden waren. Ich fand es schön, dass diese Unbekannten einen letzten Ruheplatz bekommen hatten. Dann musste der kleine Friedhof geschlossen werden. Geschlossen war vielleicht das falsche Wort. Immerhin konnte man diesen Ort auch heute noch besuchen. Es war lediglich so, dass es hier keinen Platz mehr für weitere angespülte Leichen gab und der Friedhof nicht vergrößert werden konnte.




Smilla stand bereits am Fenster ihrer kleinen Wohnung und wartete auf mich. Als sie mich kommen sah, winkte sie mir zu, gab mir anschließend ein Zeichen und machte sich auf den Weg hinunter auf die Straße. Zur Begrüßung nahm ich sie in den Arm und gab ihr einen Kuss auf die Nase.

„Und, ist sie sehr kalt?“ Lächelnd sah Smilla mich an.

„Na klar. Ich hatte allerdings auch nichts anderes von deiner Nase erwartet.“ Hand in Hand gingen wir die Friedrichstraße hinauf, bevor wir links in die Elisabethstraße abbogen. Weit war es nicht, und doch nutzte ich diesen kurzen Weg dafür, Smilla alle Infos über diesen Friedhof zu geben, die ich gestern recherchiert hatte.

Als wir angekommen waren und vor der großen Pforte standen, verharrten wir einen Augenblick. Ich hatte das Gefühl, dass meine kleine Tussi mir irgendetwas sagen wollte. Da aber auch einige Sekunden später nichts von ihr zu hören war, war ich es, der das Wort ergriff. Vielleicht war ihr heute nicht nach einem Friedhofsbesuch zumute. Wenn es so sein sollte, mussten wir ihn verschieben. Immerhin konnten wir es jederzeit nachholen oder einfach ausfallen lassen.

„Möchtest du lieber nicht auf den Friedhof?“

„Doch, auf jeden Fall. Irgendwie passe ich perfekt hierher.“

„Perfekt hierher? Wie meinst du das?“ Obwohl ich mir hätte denken können, was Smilla meinte, fragte ich nach.

„Mein Leben fühlte sich eine ganze Weile schon heimatlos an.“ Smilla stoppte ihren Satz und sah gegen das schwere Tor, vor dem wir noch immer standen. Dann griff sie erneut nach meiner Hand und sprach anschließend weiter.

„Mein Leben vielleicht nicht. Ich habe mich heimatlos gefühlt. Es wurde erst etwas besser, als ich nach Sylt gezogen bin.“

„Etwas besser nur? Ich dachte, dass es dir jetzt gut gehen würde.“

„Zunächst nur etwas besser. Aber du hast recht. Jetzt geht es mir gut. Weißt du, warum es so ist?“ Erwartungsvoll sah Smilla mich an.

„Erwartest du wirklich eine Antwort von mir?“

„Ich erwarte gar nichts. Ich glaube aber, dass du den Grund kennst.“

„Weil wir zusammen Zeit verbringen?“, fragte ich nach und spürte, wie mein Herz anfing, schneller zu schlagen.

„Nicht nur das. Auch, weil ich an dich denke, wenn wir keine Zeit zusammen verbringen. Wenn ich alleine in meiner Wohnung bin und für mich sein möchte. Dann bin ich es nicht. Zumindest nicht immer, da du die meiste Zeit bei mir bist. Weil du mich in meinen Gedanken begleitest.“ Smilla sah mich an, und ich wunderte mich darüber, dass sie in diesem Moment meine Hand losließ. Zum Glück tat sie es nur, um mir direkt danach um den Hals zu fallen. Um sich ganz dicht an mich zu schmiegen und um mich zu drücken. Auch ich nahm sie in den Arm, und es fühlte sich toll an, als ich mit meiner Hand ihren Nacken und die Haare berühren durfte.

Ein Glücksgefühl stieg in mir auf. Ein Glücksgefühl, welches intensiver nicht sein konnte. Gänsehaut hatte meinen Körper überzogen. Gänsehaut, die keineswegs der Temperatur, sondern ausschließlich diesem Moment geschuldet war. Es war ein besonderer Moment für mich. Ein Moment, den ich für immer in meinem Herzen tragen würde.



„Nun aber los.“ Smilla löste sich aus meinen Armen und öffnete das Friedhofstor und wenige Schritte weiter standen wir inmitten vieler schlichter Holzkreuze. Beschriftet waren diese lediglich mit dem Datum, an dem die unbekannten Leichen angespült worden waren, und dem Ort, an dem sie gefunden wurden. Langsam schritten wir den kleinen Friedhof ab und sahen jedes der Gräber an. Alle waren gleich. Sie unterschieden sich nur an zwei Merkmalen. Am Tag, an dem die Leiche angespült wurde, und am Ort, an dem der Körper gestrandet war. Vielleicht eine halbe Stunde verbrachten wir an diesem Ort der Stille.

Obwohl ich schon viele Friedhöfe besucht hatte, war das Gefühl auf diesem ein ganz anderes. Ich wusste nicht, ob es daran lag, dass dieser Friedhof der Heimatlosen für mich eine Verbindung zu Smilla darstellte oder ob ich für mich keinen Bezug zu den Gräbern herstellen konnte. Was auch immer es war, ich fühlte mich erst besser, nachdem wir den Friedhof verlassen hatten und uns bereits wieder in der Friedrichstraße befanden.

Wie wir es gestern besprochen hatten, machten wir uns direkt auf den Weg zu einem Bäcker, um uns mit Brötchen und Kaffee einzudecken. Da wir unsere Badesachen und eine große Wolldecke schon dabeihatten, gingen wir zum Strand und suchten uns einen schönen Platz an den Tetrapoden. Von hier aus hatten wir einen tollen Blick, waren etwas windgeschützt und konnten uns anlehnen.




Während ich mit meinem Rücken an die Tetrapoden gelehnt saß, lag Smilla neben mir und hatte ihren Kopf auf meinen Schoß gelegt.

„Denkst du über irgendetwas nach?“, fragte Smilla mit geschlossenen Augen. Sie hatte recht, ich dachte tatsächlich über etwas nach, und da sie das Thema nun angesprochen hatte, stellte ich meine Frage auch.

„Wie bist du gestern darauf gekommen, mich Lieblingszicke zu nennen?“

„Stört es dich? Dann lass ich es.“

„Nein, es stört mich überhaupt nicht. Mich interessiert nur, wie du darauf gekommen bist. Sagst du es mir?“ Obwohl ich in diesem Moment damit gerechnet hatte, dass mich zunächst Schweigen erwarten würde, antwortete Smilla sofort.

„Es war irgendwie eine Eingebung. Ich weiß nicht genau warum. Eigentlich glaube ich sogar, dass der Name gar nicht zu dir passt, und doch hatte ich das Bedürfnis, dich so zu nennen.“

„Könnte es daran liegen, weil der Button bei dir im Flur hängt?“

„Ich bin mir nicht sicher. Zunächst hatte ich geglaubt, dass es an dem Button liegt, aber jetzt …“ Smilla zuckte ein wenig ratlos mit den Schultern.

„Jetzt glaubst du es nicht mehr?“

„Als wir in der Vogelkoje diesen Button entdeckt haben, hatte ich zum ersten Mal die Idee, das Wort Lieblingszicke mit dir in Verbindung zu bringen. Merkwürdig, oder?“

„Und warum hast du mich erst gestern so genannt?“ Jetzt war ich wirklich neugierig. Konnte es etwa sein, dass eine weitere Erinnerung zurückgekehrt war?

„Vielleicht weil du mir gestern eine Vorlage dazu gegeben hast?“

„Oder?“ Ihre Antwort stellt mich nicht so recht zufrieden.

„Was oder?“

„Du hast vielleicht gesagt. Ich dachte, dass es noch eine andere Möglichkeit gibt.“

„Oder weil ich vorher zu feige war.“ Smillas Stimme wurde bei ihren Worten immer leiser. Als wäre ihr diese Feigheit unangenehm.

„Vielleicht bist du gar nicht so heimatlos, wie du immer gedacht hast?“ Ich biss mir auf die Zunge. Diesen Satz, besser gesagt diese Frage hätte ich mir lieber verkneifen sollen. Wie um alles in der Welt kam ich in diesem Moment auf die Idee, in ihrer Wunde zu bohren? Es war wirklich selten dämlich von mir und ich ärgerte mich bereits jetzt extrem darüber.

Wer mag schon Heimatlos sein?
Wobei, für die dort liegenden Körper ist es irgendwie doch schön. Oder?

Liebe Grüße
Ben

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